Freitag, 20. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #20

Achtung! Diese weihnachtlich-traurige Gruselgeschichte startet bei TÜRCHEN 1!
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TÜRCHEN 20

Mathilde hatte gefordert, den dritten Stock nicht mehr zu vermieten. Doch Johanna hatte sie als abergläubische Idiotin bezeichnet und gesagt, sie werde nicht auf Einnahmen verzichten, nur weil Mathilde an Geister glaube.
Nachdem eine Bombe das Haus im Krieg beinahe ausgehöhlt hatte, hatten die Renovierungsarbeiten bis Ende der 50er Jahre gedauert. Kurz danach zogen die ersten Mieter ein, die aber nicht lange Mieter bleiben sollten. Mathilde erinnerte sich, wie ihr Vater kreidebleich auf dem Bürgersteig gestanden hatte. Feuerwehr und Polizei standen zwischen ihm und einer Meute Schaulustiger, die einen Blick auf die vier Leichen werfen wollten. Am Weihnachtsabend hatte Herr Schmitz seine Familie getötet. Zuerst hatte er seine fünfjährige Tochter aus dem Fenster geworfen, dann seinen zweijährigen Sohn. Seine Frau hatte er mit dem verpackten Staubsauger, den er ihr wohl hatte schenken wollen, bewusstlos schlagen müssen, bevor auch sie aus dem Fenster flog. Er sprang hinterher, bevor die Polizei eintraf. Ein Psychologe vermutete später, Herr Schmitz sei Amok gelaufen, da er unter einer schweren Kriegstraumatisierung litt.

Der Vorfall hatte die Zeitungen lange beschäftigt, so dass die Wohnung schwer wieder zu vermieten gewesen war. Erst fünf Jahre später zog ein junges Ehepaar ein. Die Frau war schwanger. Jedenfalls bis sie am Weihnachtsabend eine Fehlgeburt erlitt. Ihr Mann und sie kamen in eine Psychiatrische Klinik: Sie behaupteten, ihre verstorbene Mutter sei ihnen nach der Bescherung erschienen und hätte die beiden so sehr verängstigt, dass die junge Frau ihr Kind verloren hatte.
Ein dritter Mieter hatte einmal an Weihnachten versucht die Wohnung anzuzünden, weil er Geister zu sehen glaubte. Diesen Fall hatte Mathildes und Johannas Vater nicht mehr miterlebt. Er war im Sommer 1969 gestorben und hatte das Haus auf seine beiden Töchter überschrieben.
Der letzte Vorfall ereignete sich dann schon an Weihnachten 1970: Johanna hatte die Wohnung mit einer Wand zweigeteilt und sie an jeweils ein junges Paar vermietet. Am Tag nach heilig Abend hatten beide Paare die dünne Trennwand durchschlagen und sich gegenseitig mit diversen Küchengeräten gelyncht.

Da hatte Mathilde gefordert, die Wohnung nicht mehr zu vermieten.
„Menschen sind verrückt“, hatte Johanna gesagt. „Daran werden wir nichts ändern. Und warum wir die Verrückten anziehen, weiß ich auch nicht.“
„Der dritte Stock ist gefährlich! Es spukt darin, seit…“ Mathilde biss sich auf die Zunge.
„Ja? Seit wann?“ hakte Johanna nach. Und Mathilde erzählte ihr, wie sie kurz nach dem Krieg im dritten Stock gestanden hatte. „Man konnte durch das riesige Loch der Bombe durch alle Stockwerke bis in den Keller schauen. Das sah sehr verrückt aus. Und unter dem Keller ging es noch viel tiefer weiter. Bis in die tiefste tiefste Dunkelheit.“
„Was soll das sein, die tiefste tiefste Dunkelheit?“ Johanna runzelte die Stirn und Mathilde zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Irgend etwas Böses ist durch die Bombe geweckt worden und schlägt immer an Weihnachten zu.“
Da hatte Johanna herzlich gelacht und Mathilde hatte weinen müssen, weil ihre Schwester sie nicht ernst nahm. Und weil Johanna ihre Schwester nicht gut weinen sehen konnte, hatte sie sie getröstet und eine Vereinbarung mit ihr getroffen: „Wir vermieten die Wohnung weiter. Und an Weihnachten sorgen wir dafür, dass niemand dort ist.“ Die beiden Damen hatten schnell herausgefunden, dass es in diesem Fall am besten ist, nur noch an Studentinnen und Studenten zu vermieten – auch wenn sie Studentinnen und Studenten eigentlich nicht mochten und den schönen Altbau zu schade für faule junge Leute fanden. Aber Studenten bekam man leicht an Weihnachten vor die Tür – sie besuchten normalerweise über die Feiertage ihre Familien.

Tatsächlich war seitdem an Weihnachten immer Ruhe gewesen. Bis heute. Johanna und Mathilde standen an der selben Stelle, an der ihr Vater vor beinahe 60 Jahren die tote Familie identifizieren musste. Die beiden Damen blickten an der Fassade hoch und sahen, dass im dritten Stock Licht brannte – in den anderen Etagen war es dunkel. „Tatsächlich, das Mädchen ist zu Hause und nicht in München“, stellte Johanna fest.
„Glaubst du, wir werden Geister sehen?“ fragte Mathilde mit leicht zitternder Stimme, während sie mit Johanna zur Haustür ging. Johanna warf ihrer Schwester einen finsteren Blick zu. „Denk gar nicht erst daran. Es wird nichts aufregendes passieren.“
Aber Mathilde hörte Johannas Stimme an, dass sie sich auch fürchtete. Zum ersten Mal seit 40 Jahren war an Weihnachten wieder jemand in der Wohnung. Und schon drohte wieder Unheil zu passieren. Das konnte tatsächlich kein Zufall sein. Johanna suchte nach der richtigen Klingel und drückte schließlich bei „Wagner/Mertens“.

„Kindchen mach auf“, flüsterte Mathilde, als nach etwa zehn Sekunden weder die Sprechanlage noch der Türsummer aktiviert worden waren. Eilig drückte Mathilde dreimal hintereinander auf den Klingelknopf. Johanna suchte an ihrem übervollen Schlüsselbund nach dem Generalschlüssel des Hauses.

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