Sonntag, 22. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #22

Achtung! Diese weihnachtlich-traurige Gruselgeschichte startet bei TÜRCHEN 1!
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TÜRCHEN 22

„Kannst du etwas hören?“ fragte Mathilde neugierig, während sich Johanna an die Wohnungstür im dritten Stock lehnte. Sie hatten ein grausiges Kreischen gehört. Mathilde war sich sicher gewesen, das Wort „umgebracht“ vernommen zu haben, doch Johanna hatte sie gescholten, keinen Unsinn zu fantasieren. Jetzt war in der Wohnung alles still. Johanna drückte ein par Mal auf den Klingelknopf. Es war kein Klingeln zu hören.
„Die Geister wollen nicht gestört werden“, hauchte Mathilde.
Diesmal verzichtete Johanna darauf, ihre Schwester zu ermahnen. Stattdessen hämmerte sie feste gegen die Tür. „Hallo! Frau Mertens! Sind Sie da? Geht es ihnen gut?“

„Hallo! Frau Mertens!“
Hatte da jemand nach ihr gerufen? Lotte war sich nicht sicher. Und falls ja, dann war das Rufen unendlich weit weg. In ihren Ohren klingelte noch Birtes Schrei. Die Schwester hatte sich wie ein kleiner Rachenegel breitbeinig vor ihr aufgebaut. Neben ihr lag der kleine Plüschdrache auf dem Boden und spie seine angenähte Stoff-Flamme in Lottes Richtung. Als würde Birte die Drachenkönigin Daenerys Targaryen aus „Game of Thrones“ im Schultheater spielen. Und wie Daenerys wird sie dich nicht davon kommen lassen. Denn DU hast sie umgebracht!
Plötzlich erinnerte sich Lotte an den Unfall in all seinen Details. Sie wunderte sich, wie sie ihn überhaupt hatte vergessen können. Sie hatte gewusst, dass Birte bei einem Autounfall gestorben war. Aber sie hatte nicht mehr den Unfall selbst vor Augen gehabt. Und was noch seltsamer war: Sie hatte sich niemals darüber gewundert. Genauso wenig wie es sie erstaunt hatte, dass sie Birtes Aussehen vergessen hatte. Das nennt man wohl Verdrängung.
Doch jetzt war alles wieder da: Birte sitzt im Kindersitz. Es ist einer für kleine Kinder. Mit einem Tischchen vorne dran, auf dem ein Malblock liegt, in den Birte hinein kritzelt. Ihren Plüschdrachen Kwisitas hat sie unter den Arm geklemmt. Auch Lotte sitzt auf einem Kindersitz, ihrer hat kein Tischchen. Mama und Papa sitzen vorne. Sie streiten. „Du hast Angst zu fahren und bist gleichzeitig zu bescheuert, die Karte zu lesen! Wozu bist du überhaupt gut!“, brüllt Papa. Mama knickt die Karte um und sucht verzweifelt etwas. Sie brüllt zurück: „Wenn du die Ausfahrt nicht verpasst hättest, dann hätten wir jetzt kein Problem!“ Lotte würde am liebsten schreien, dass sie still sein sollen. Wenn Mama und Papa zu Hause streiten, dann zieht sich Lotte in ihr Zimmer zurück und hofft, dass bald alles wieder gut ist. Im Auto kann sie nicht weg. Und Birte sitzt neben ihr und malt, so als wäre nichts. So als würde sie Mama und Papa nur streitend kennen und sich deshalb nicht erschrecken. Wie kann sie nur so ruhig sein! Das macht Lotte SO SCHRECKLICH wütend! Was kann sie tun, damit Mama und Papa zu streiten aufhören? Und dann hat Lotte den selben aggressiven Impuls wie damals im Sandkasten, als sie Birte den Zahn ausschlug. Sie versucht gar nicht erst, den Impuls zu unterdrücken, sondern gibt ihm sofort nach. Lotte beugt sich vor und muss ihre Hand ausstrecken, um den roten Knopf erreichen zu können. Ihr Gurt versucht Lotte zurückzuhalten, doch als sie sich noch ein Stück weiter vorbeugt, schafft sie es, den Knopf an Birtes Gurt zu erreichen. Lotte drückt ihn! Der Gurt rollt sich ab, das Tischchen löst sich und fällt Birte vor die Füße. Birte schaut irritiert, dann weint sie. „Hier hast du die Karte!“, schreit Mama und knallt sie Papa auf das Lenkrad. Er bremst. Die Karte schlägt vor Papas Gesicht. Das Auto rutscht irgendwie, während Papa am Lenkrad reißt. Und da, wo Birte gesessen hat, ist jetzt ein leerer Kindersitz. Auch der Drache Kwisitas ist davongeflogen. Ehe Lotte über den leeren Sitz nachdenken kann, wird ihr Kopf durchgeschüttelt. Irgendetwas kracht. Das Auto stößt wogegen. Als es zum Stehen kommt, sieht Lotte, dass die Frontscheibe zerbrochen ist. Ein ausgefranstes Loch prangt in ihrer Mitte. Und der Kindersitz neben Lotte ist leer. Mama und Papa streiten nicht mehr. Irgendwo ruft jemand nach Lotte. Irgendwo am anderen Ende der Welt.

„Hallo? Frau Mertens?“ Johanna ging voran und zog den Generalschlüssel aus dem Schloss. Mathilde folgte vorsichtig. „Entschuldigen Sie, dass wir einfach reingekommen sind, aber wir…“
„Es tut mir so leid! Es tut mir so leid, Birte!“ Mathilde drängelte an ihrer Schwester vorbei, als sie die verzweifelten Entschuldigungs-Bekundungen aus dem Wohnzimmer hörte. Sie stolperte beinahe über die Sachen, die auf dem Boden lagen: Ein Mantel und eine ausgeschüttete Handtasche. Mathilde erreichte die Tür.
„Frau Mertens, ich helfe Ihnen! Ich… Machen Sie auf!“ Mathilde zerrte an der Wohnzimmertür. Sie war so fest verschlossen, dass sie sich nicht einen Millimeter rührte. Johanna schob ihre Schwester zur Seite und versuchte ihre Glück. Nichts zu machen, die Tür zu dem Zimmer, in dem sie die junge Frau Mertens weinen und schreien hörten, ließ sich nicht öffnen. Sie scheint tatsächlich wahnsinnig zu sein. Dachte Johanna. Kann es wirklich sein, dass an Weihnachten alle Menschen in dieser Wohnung dem Wahnsinn verfallen? Johannas Magen verkrampfte sich. Als sie Lottes heulende Schreie hörte, glaubte sie zum ersten Mal, seit sie diese Wohnung vermietete, dass es darin spuken könnte.
Ein schrilles Piepen tönte durch den Flur! Johanna fuhr herum. Mathilde hielt ein Handy in der Hand, das sie auf den Boden fallen ließ, als es plötzlich klingelte. Der Vibrationsalarm ließ es auf dem Parkett tanzen. „Das lag hier. Ich habe es eingeschaltet“, stammelte Mathilde so aufgeregt, als hätte sie versehentlich eine Explosion ausgelöst. „Ich dachte, vielleicht, können wir Hilfe…“
Johanna hob das Handy auf. Im Display blinkten die Worte „Mama ruft an“.

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