Donnerstag, 5. Dezember 2013

Der gruseligste Adventskalender der Saison... #5

Achtung! Diese weihnachtlich-traurige Gruselgeschichte startet bei TÜRCHEN 1!
Hier geht es weiter mit:

TÜRCHEN 5

„Herr Mertens, Ihre Tochter ist gekommen“, sagte die Frau im weißen Kittel und warf Lotte einen aufmunternden Blick zu, der sie aber nicht dazu bewegen konnte, näher an ihren Vater heran zu treten. Herr Joachim Mertens blickte auf, doch Lotte konnte den Blick nicht erwidern. Ihre Aufmerksamkeit war auf die Bandagen an Papas Handgelenken gerichtet. Selbstmordversuch. Das Wort schoss Lotto mit der Wucht eines Vorschlaghammers in den Kopf. Sie ertappte sich dabei, wie sie das Wort sofort in seine einzelnen Silben zerlegte. Selbst-Mord-Ver-Such. In der Ent-Zugs-Klinik. „Hallo Lottchen“, sagte Herr Joachim Mertens. Es erschreckte Lotte beinahe, dass der Mann Papas Stimme hatte. Sie ging auf ihn zu, während der Mann am Nebentisch belehrt wurde, dass er jetzt Rot und nicht mehr Grün zu spielen hätte. Lotte beugte sich vor und drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn. Er roch nicht wie Papa. „Habe ich dir mitgebracht“, sagte sie, während sie ihm die herabhängenden Blumen hinhielt. Die Frau im Kittel nahm sie eilig ab, murmelte einen Satz mit „Vase“ und verließ das Zimmer.

Lotte setzte sich. Sie zwang sich, nicht auf die Bandagen an den Handgelenken zu starren  und hob ihren Blick, um ihrem Vater in die Augen zu schauen. Doch seine Augen sahen nicht zurück. Nervös zuckten sie von einer Seite zur anderen. Der dreizehnjährige Lotte wurde klar, dass sie Mitleid empfinden sollte mit dem Mann, der ihr Vater sein sollte aber stattdessen nur ein Fall von Selbst-Mord-Ver-Such in einer Ent-Zugs-Klinik war. Ihr Körper rebellierte gegen die Situation, ihre Hände begannen zu zittern und Lotte versteckte sie unter der Tischplatte. „Wie geht es dir?“ fragte sie und dachte Ich sollte das nicht fragen. Doch ihre Frage sorgte dafür, dass Papas Augen plötzlich still hielten und sie fixierten. „Danke, dass du gekommen bist“, sagte er. „Deine Mutter will mich sicher nicht mehr sehen.“
„Ja.“
„Sie hat recht. Du hättest auch nicht kommen sollen.“
„Warum?“
Die Antwort überraschte Lotte: „Weil ich dir nichts vormachen kann, Lottchen. Niemand kann dir etwas vormachen. Ich habe versucht mich umzubringen. Es kommt manchmal vor – wahrscheinlich öfter, als man denkt – dass sich dreizehnjährige Mädchen in die Arme schneiden. Leute die sich selbst verletzen, wollen Aufmerksamkeit. Und bei Teenagern ist das in Ordnung. Sie brauchen Aufmerksamkeit. Sie brauchen Menschen, die ihnen sagen, dass die Welt nicht so schlimm ist, wie sie vielleicht glauben. Doch in unserer Familie ist einiges schief gelaufen. Und darum sitzt du jetzt hier deinem Vater gegenüber, der sich in die Arme geschnitten hat. Aber ein dreizehnjähriges Mädchen kann einem erwachsenen Mann nicht sagen, dass die Welt nicht schlimm ist.“
„UNO!“ brüllte der Mann am Nebentisch, um laut Spielregel seinen Sieg zu verkünden. Doch seine Mitspielerin belehrte ihn, dass er nicht gewinnen kann, indem er eine Karte spielt, die nicht der Trumpf-Farbe entspricht.
„Warum hast du das gemacht?“ fragte Lotte. Sie streckte die Hand nach den Bandagen aus, doch ihr Vater legte die Hände in seinen Schoß.
„Bitte geh nach Hause und stell dir die Frage nicht. Ich will nicht, dass du dir Gedanken darüber machen musst. Ich will, dass du gehst und so stark bist, wie du es immer warst. Lass dich nicht bremsen und meide Leute, die dich auf deinem Weg aufhalten.“

Lotte begriff, dass er sich selbst meinte. „Aber du gehörst nicht zu den Leuten, die mich aufhalten! Ich will, dass du dabei bist, wenn ich meinen Weg gehe! Das machen Eltern doch, oder?“
„Ja. Aber das kann ich nicht.“ Papa sah Lotte kurz in die Augen, doch als sie den Blick erwiderte, wendete er sein Gesicht sofort von ihr ab. Da begriff Lotte, dass Papa nicht einmal den Versuch unternehmen würde, Teil ihres Lebens zu sein. So wie er sein Gesicht abgewendet hatte, so wollte er sich von ihr – wollte er sich von allem – abwenden. Alles Mitleid, das Lotte empfunden hatte verwandelte sich von der einen in die andere Sekunde in blanke Wut. Sie schlug ihre Hand so feste auf den Tisch, dass der Mann nebenan seine Karten vor Schreck fallen ließ. „Was machst du denn“, rief die Frau. „Jetzt kann ich doch sehen, was du hast!“ Papa dagegen zeigte keine Reaktion. „Was soll das jetzt, Papa? Willst du mir sagen, dass wir uns das letzte Mal sehen, oder wie? Wie stellst du dir das vor?“

Papa antwortete nicht, sondern senkte seinen Blick, was Lotte noch wütender machte. „Dein Selbstmitleid kotzt mich an“, sagte sie, wobei ihre Stimme zitterte. Tränen traten ihr in die Augen. Lotte drehte sich auf dem Absatz um und wäre beinahe in die Frau mit dem Kittel hinein gerannt, die Lottes Blumen in einer Vase vor sich her trug. Verdutzt schaute sie Lotte hinterher, als sie aus dem Raum stürmte. „Haben Sie Herrn Mann gesehen?“ fragte der Mann im Foyer, als Lotte nach draußen rannte.

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